Informationsvorlage - 0002/07-IV
Grunddaten
- Betreff:
-
Armut - Diskussionsthema zu Lebenslagen in Deutschland
- Status:
- öffentlich (Vorlage abgeschlossen)
- Vorlage freigegeben:
- 17.01.2007
- Vorlageart:
- Informationsvorlage
Beratungsfolge
Status | Datum | Gremium | Beschluss | NA |
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Erledigt
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Ausschuss für Soziales, Gesundheit und Migration
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17.01.2007
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Thesen
- Der Armutsbegriff ist vielschichtig und nicht
genau definiert. Es gibt deshalb auch nicht die Armut.
- In Deutschland sprechen wir nicht von
existentieller Armut, die eine physische Bedrohung für das Leben
darstellt, sondern von einer relativen Armut aufgrund der sozialen
Sicherungssysteme.
- Relative Armut bezieht sich auf Chancengleichheit
und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und hat wirtschaftliche und
soziale Komponenten bzw. monetäre und nichtmonetäre Aspekte.
- Aus kommunaler Betrachtung und Einflussnahme ist
der monetäre Aspekt uninteressant, da er sich auf Anteile der
Einkommensverteilung bezieht, die losgelöst vom jeweiligen speziell
individuellen Existenzminimum existieren.
- Kommunales Verwaltungshandeln setzt im sozialen
und nichtmonetären Bereich an, der individuell Mangel- und Notlagen von
Haushalten in Schwerpunktbereichen erfasst.
- Schwerpunktbereiche sind: Wohnung, Arbeit,
Bildung/Ausbildung, Gesundheit, Familie und damit verbundene soziale
Transferleistungen.
- Zu diesen Schwerpunktbereichen existieren in
Rostock Leitlinien der Stadtentwicklung, Handlungskonzepte, Programme und
Einzelpläne, nach denen langfristig gearbeitet wird.
- Das Thema „Armut“ oder
„Zwei-Drittel-Gesellschaft“ wurde in der bundespolitischen
fachlichen Diskussion lange negiert und offen bekämpft. Mit diesem Problem
wurden Kommunen sich selbst überlassen und zudem finanziell belastet. Weil
die Konzentration sozial Benachteiligter in den Großstädten und Kommunen
gesellschaftlich bedingt ist, kann sie auch nur dann verhindert oder
beseitigt werden, wenn dieses gesellschaftlich, politisch, finanziell und
planerisch gewollt ist. Da aber die eigentlichen Ursachen für die Armut in
der Stadt und die räumliche Konzentration der Armut überwiegend auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene liegen, sind sie auch von den Kommunen nur
bedingt zu beeinflussen. Damit besteht das Problem, dass die sozialen und
ökonomischen Folgeprobleme gesamtgesellschaftlicher Entwicklung zum Teil
nur räumlich verlagert werden können bzw. mit anderen Symptomen in anderen
Zusammenhängen und anderen Umständen verstärkt wieder auftreten.
Armut ist ein
mehrdimensionales Problem, das sich auf die unterschiedlichsten Ursachen
zurückführen lässt.
In der Armutsforschung
herrscht weder Einigkeit darüber, welche Armutsgrenzen zu setzen sind, noch
darüber, wie Armut zu definieren und zu messen ist.
Fest steht jedoch, dass Armut
der Zustand einer dauerhaften Ressourcenknappheit ist, der für die Betroffenen
mit sozialen, psychischen und physischen Belastungssyndromen einhergeht. Was
ein Armutszustand ist, ist zeitlich und gesellschaftlich bedingt.
Bedingt durch die Unschärfe
der Definition von Armut fördert dieser Begriff in Deutschland eine diffuse
Diskussion. Die Armut an sich gibt es nicht, sondern wirtschaftliche und
soziale Kriterien, die nach Quantität und Qualität einen relativen objektiv
und/oder subjektiv begründeten Mangelzustand beschreiben.
Diese Kriterien müssen analysiert und diskutiert werden.
Begrifflich unterscheidet man
die existentielle Armut im Unterschied zur relativen Armut oder auch Neuen
Armut.
Die existentielle,
absolute Armut ist für Deutschland kaum zutreffend und wird deshalb in
Untersuchungen zumeist ausgeblendet, geht es doch hierbei um konkrete
Existenznot, wo Mittel zum physischen Überleben fehlen, mit dem akuten Risiko
des Sterbens durch Erfrieren, Verhungern oder Verdursten verknüpft.
Die relative Armut ist
die gebräuchliche Bezugsgrundlage für Untersuchungen in Deutschland. Relative
Armut bezeichnet die Ausgrenzung aus der jeweiligen Gesellschaft und orientiert
sich am jeweiligen gesellschaftlichen Wohlstandsniveau. Nach dem
Armutsverständnis der Europäischen Union gelten die Personen, Familien und
Gruppen als arm, “die über so geringe materielle, kulturelle und soziale
Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem
Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“. Die
Orientierung auf relative Armut in Deutschland geht von einem gut entwickelten
und tragfähigen Netz sozialstaatlicher Sicherung aus, wonach im Sozialgesetz
„die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen
entspricht“, auf Basis des Verfassungsgrundsatzes vorgesehen ist.
Folgende Schwerpunkte der
Einkommens- und Lebenssituation spielen in Anlehnung zu Untersuchungen des
Europäischen Haushaltsplanes bei der Ermittlung des Armutsrisikos eine
besondere Bedeutung:
-
Einkommen,
-
Arbeitsmarkt,
-
Wohnung,
-
sozial-kulturelle
Integration und Bildung,
-
Gesundheit und
-
Indikatoren zur
(individuellen) Lebensqualität.
Es handelt sich hierbei also um eine Wirtschafts- und/oder Sozialkomponente,
den monetären und den nichtmonetären Aspekt, aber man kann gleichzeitig auch
objektive bzw. subjektive Bedingungen oder Umstände (Lebensverhältnisse) nicht
voneinander trennen.
Der Schwerpunkt der monetären
Armutsdiskussion ist eigentlich die Diskussion über die Teilhabe, dem Anteil an
der Einkommensverteilung, die Verteilungsgerechtigkeit, sodass man die Armut
immer (auch in der EU-Berechnung hinsichtlich der Armutsschwelle) im Vergleich
zum Reichtum sieht, was auch die Form als Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung bestätigt.
Die relative Armutsgrenze
wird in der Regel an der 50 Prozent-Schwelle festgemacht. Einkommensarm ist
nach dieser Modellvorstellung ein Haushalt mit einem Einkommen, das unter der
Hälfte des durchschnittlichen gewichteten Haushaltsnettoeinkommens
(Äquivalenzeinkommen) liegt. Darüber hinaus wird die 40 Prozent-Grenze zur
Beschreibung strenger Armut und die 60 Prozent-Grenze für weite Armut oder als
Schwellenwert für das Armutsrisiko relativ willkürlich gezogen, da kein realer
Bezug zu einem wie auch immer definierten tatsächlichen und vor allem
individuellen Existenzminimum besteht. Sich trotzdem mit dem statistischen
monetären Aspekt in der Sozialwissenschaft zu beschäftigen, erscheint z.B. in
Hinblick auf Festlegungen zu kompensierenden Sozialleistungen wie Sozialhilfe
sinnvoll mit der besonderen Orientierung auf die Besonderheiten nicht nur von
Staaten und Regionen, sondern auch von Wirtschafts- und Sozialräumen.
Wichtiger vor allem auch für
die kommunale Betrachtung sind die nichtmonetären und individuell-subjektiven
Aspekte, die zur Armut führen und der speziellen sozialen Aufmerksamkeit und
Fürsorge bedürfen.
Während der Begriff der relativen Armut schon durch gesamtgesellschaftliche,
politische und staatliche Wertvorstellungen geprägt ist, wirken überlagernde
subjektive Wertevorstellungen,
Bedürfnisse, Verbraucher- und
Verhaltensmuster. Lebensumstände, individuelle Prioritätensetzung und Disziplin
bestimmen mit, inwieweit soziale Sicherungssysteme tragfähig sind.
Primär sollte der Blickwinkel
für kommunales Handeln auf den individuellen Auswirkungen der Armut und den
Maßnahmen zur Chancengleichheit liegen. Als besonders wichtige Einflussfaktoren
zur Lebenslage gelten:
-
Sicherung einer
ausreichenden Wohnsituation,
-
Ermöglichung
eines konkurrenzfähigen Bildungs- und Ausbildungsstandes,
-
Zugang zur
qualifizierten Gesundheitsversorgung und zum Erhalt der Gesundheit,
-
Integration in
den Arbeitsmarkt zur Teilhabe am Erwerbseinkommen zur Befriedigung der
Grundbedürfnisse
-
Zugang zu
kulturell-sozialen Angeboten
und
-
Unterstützung bei
Entlastung von Schulden und sozialen Problemen.
Etwa zeitlich parallel mit
dem Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu Lebenslagen in
Deutschland im Jahre 2005, wurde eine Studie in Deutschland erarbeitet, nach
der 10,6 Mio. Menschen und damit 13 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht
sind. Darunter befanden sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes allein
1,7 Mio. Kinder.
Die Gefährdung bezog sich auf Personen, Familien, Gruppen, die mit 60 Prozent
des mittleren Nettoeinkommens auskommen müssen. Das mittlere Nettoeinkommen pro
Monat bezifferte die Behörde auf 1.427 Euro, wobei 60 Prozent 856 Euro
entsprechen. Für eine Familie mit zwei Kindern, die unter 14 Jahre alt sind,
liegt die Armutsgefährdungsgrenze bei 1.798 Euro. Bei einer allein erziehenden
Mutter mit einem Kind unter 14 Jahren sind es 1.113 Euro.
Der Studie war weiterhin zu entnehmen, dass über 40 Prozent der Arbeitslosen
und jeweils ein Viertel der Personen ohne abgeschlossene Schul- oder
Berufsausbildung armutsgefährdet sind, aber nur fünf Prozent der
Erwerbstätigen. Ohne soziale Transferleistungen wie Arbeitslosengeld,
Sozialhilfe, Wohngeld oder Kindergeld wäre fast ein Viertel der Bevölkerung von
Armut bedroht.
Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt unter der
Überschrift Politik der sozialen Gerechtigkeit folgende zehn
Handlungsschwerpunkte als Maßnahmen gegen Verarmung auf:
1. Reform der Sozialhilfe – Armutsbekämpfung
zielgenau ausrichten
2. Familien fördern – ein kinderfreundliches
Deutschland schaffen
3. Vorrang für Bildung – in Bildung und Ausbildung
investieren
4. Mehr Beschäftigung – Moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt
5. Aktive Wohnungspolitik - ein erfolgreicher Beitrag zur
sozialen Integration
6. Gesundes Leben – Basis für Teilhabe
7. Erfolgreiche Politik für behinderte Menschen
fortsetzen
8. Migration und Integration unterstützen
9. Menschen aus extremer Armut helfen
10. Gesellschaftliche Partizipation und bürgerschaftliches
Engagement fördern.
Als ständige Aufgabe für Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft wird zur Vermeidung von Armut die Eröffnung von
Teilhabe- und Verwirklichungschancen gesehen, obwohl im Ergebnis des Berichts
der Bundesregierung einschränkende Bemerkungen zur Allgemeingültigkeit und
Wirksamkeit aufgrund unvollkommener Methodik und unvollständiger Datenlage
angebracht erscheinen.
Am 13.03.1997 fand in der
Hansestadt Rostock eine Armutskonferenz statt unter dem Motto „Arm(e) in
Rostock – eine Herausforderung an kommunales Handeln“.
Praxisbeispiele und Projektvorstellungen nahmen einen großen Raum während der
ganztägigen Veranstaltung ein.
Die Leitstelle für Stadtentwicklung und das Sozialamt der Hansestadt Rostock
waren schwerpunktmäßig in die Vorbereitung und Durchführung der Fachtagung
eingebunden.
Wesentliche Grundlage bildete
das „Konzept für eine kommunale Armutsprävention in der Hansestadt
Rostock“, eine Studie, die im Auftrag der Hansestadt Rostock (Leitstelle
für Stadtentwicklung) durch Herrn Dr. Bura (Stattbau Hamburg GmbH) im Jahr 1996
im Zusammenwirken mit städtischen Ämtern und regionalen Institutionen fertig
gestellt wurde.
Schwerpunkte des Konzepts für
eine kommunale Armutsprävention waren die Organisation einer kommunalen
Armutspolitik in den Handlungsfeldern Wohnungslosigkeit, Sozialhilfe und
Arbeitslosigkeit. Obwohl rund
zehn Jahre vergangen sind, seitdem die Studie erarbeitet und vorgestellt wurde,
haben auch noch heute die dort erarbeiteten Schwerpunkte aktuelle Bedeutung und
Gültigkeit für die Maßnahmen zur sozialen Stabilisierung und kommunales Handeln
in unserer Stadt. Daran sollten auch Datenverschiebungen und strukturelle
Veränderungen, wie z.B. in der Arbeitsmarktpolitik das neue Hansejob-Center,
nichts ändern. Begünstigt wurde diese Nachhaltigkeit durch den frühzeitigen
Eingang in die kommunalen Leitlinien der Stadtentwicklung und die aus diesem
strategischen Dokument ständig abgeleiteten sozialen Konzepte und Einzelpläne.
Diese waren den kommunalen Strategien gegen Armutsentwicklung folgend exakt an
dem unmittelbaren kommunalen Handeln ausgerichtet sowie durch Projekte und
Maßnahmen untersetzt. Nur auf dieser Basis sollte kommunales Wirken begründet
sein, unabhängig von bundesweiten monetären Armutsdiskussionen, wo es schon
lange nicht mehr um Armut geht, sondern um eine politische Diskussion zur
Einkommensverteilung, Verteilungsgerechtigkeit und gesellschaftliche Werte, die
aber betroffene Einzelschicksale vergessen lässt.
Dr. Wolfgang Nitzsche